Die Wahrheit hat es schwer. Jeder weiß aus persönlicher Erfahrung, wie schwer es ist, gegenüber
sich selbst und seinen Mitmenschen immer ehrlich zu sein, und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Im
folgenden geht es weniger darum, was genau "die Wahrheit" ist, sondern um die Beschreibung jener
Kräfte und Zusammenhänge, die es der Lüge ermöglichen, zum zentralen Element einer Gesellschaft
zu werden. An dieser Stelle ist es auch zunächst zweitrangig, ob Sie meine Ansicht teilen, dass wir
gegenwärtig in einem solchen System der Lüge leben. Es geht um das Verständnis, wie ein
Lügensystem funktioniert.
Dass solche Systeme funktionieren, hat uns die Geschichte ja bereits mehrfach bewiesen. Und
gerade wir Deutschen sollten den Preis kennen, den die Menschen letztlich dafür bezahlen mussten.
Sind wir deshalb heute schlauer? Haben wir daraus gelernt? Faschismus und r.e.Soz. liegen hinter
uns – haben wir uns gleichsam von jenen Mechanismen befreit, die solche Systeme ermöglichten?
Die Thematik ist sehr umfangreich und es fällt mir schwer, meinen Gedanken eine wohlgeordnete
Struktur zu geben. Deswegen hier zunächst einmal stichwortartig einige Aspekte, auf die ich dann
weiter unten jeweils etwas detaillierter eingehen werde.
Die Lüge klingt besser und sieht besser aus
Charlotte Roche hat es erst kürzlich auf den Punkt gebracht mit ihrer Aussage: "Ich bin dafür, dass ein
Gast lieber lügt, damit es unterhaltsam wird, als eine langweilige Wahrheit zu erzählen." Oder anders
formuliert: Lügen sind sexy. Immer nur die Wahrheit wäre anstrengend und unzumutbar. Natürlich lebt
die Unterhaltungsindustrie von Illusionen, und überhaupt sind Träume, Illusionen und Phantasien
wichtige Bereiche der menschlichen Natur, die ihre Funktion und Berechtigung haben. Die Übergänge
zur Lüge sind fließend, genauso wie der Übergang zwischen Medienwelt und Realität. Wir sind mehr
oder weniger auf Unterhaltung getrimmt, nicht in dem Sinne, dass wir uns mit anderen realen
Menschen unterhalten, sondern in dem Sinne, dass bei unserer Wahrnehmung der Realität (direkt
oder durch die Medien) der Unterhaltungsfaktor eine große Rolle spielt. Zwischendurch mal eine Prise
Wahrheit ist o.k., vor allem wenn sie gut gewürzt und unterhaltsam 'rüberkommt, wie z.B. bei guter
Satire. Aber bitte nicht zuviel und nicht zu unangenehm. Da schalten wir lieber um. (Solange wir noch
können.)
Das ist eine unserer menschlichen Schwächen. In einem System der Lüge wird diese
Schwäche gefördert, kultiviert und ausgenutzt. Die Lüge kommt glänzend, lächelnd, strahlend und
erfolgreich daher, die Wahrheit oftmals armselig, einsam, verbittert, erschütternd, grausam, holprig.
Und so lieben die Italiener ihren Berlusconi, egal wieviel Dreck er am Stecken hat, egal, was er von
sich gibt. Politik ist nun mal ein dreckiges und ödes Geschäft – da soll es wenigstens unterhaltsam
sein. Die Menschen hören lieber einem charismatischen Lügner zu, und wollen daran glauben, dass
die wohlklingenden Worte wahr sind. Bis die echte Wahrheit vor ihrer Haustür steht.
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Die Wahrheit ist zu unglaublich und liegt jenseits des Vorstellungsvermögens
Hier haben wir ein ganz zentrales und für viele Menschen schwer zu begreifendes Phänomen eines
totalen Lügensystems: Eine Wahrheit, die die Menschen nicht zu fassen vermögen, wird von ihnen
abgelehnt. Um zu verdeutlichen, worum es geht, will ich ein paar drastische Beispiele anführen.
Stellen Sie sich vor, sie hätten Anfang der dreißiger Jahre einem jüdischen Bürger in Deutschland
erzählt, wie zehn Jahre später die Vernichtungsmaschinerie funktionieren würde. Er hätte Ihnen einen
Vogel gezeigt, hätte Sie als Schwarzmaler, Spinner oder Paranoiker bezeichnet. Oder jemand erzählt
Ihnen die Geschichte, dass dieser oder jener Vertreter der höchsten Machtebenen an schwarzen
Messen teilnimmt, bei denen Kindersklaven auf bestialischste Weise missbraucht bzw. abgeschlachtet
werden. Zu heftig? Na dann eben die bereits weithin bekannte Version des 11. Septembers, nach der
Kreise der amerikanischen Machtelite die Anschläge selbst inszeniert haben und dabei mal eben 3000
Menschen geopfert haben, nur um ihre verqueren Machtinteressen umzusetzen. Billige
Verschwörungstheorie? Oder einfach nur jenseits Ihres Vorstellungsvermögens?
Nun ja, beim ersten Beispiel wissen wir, dass es sich um bittere, grausame, beinah unfassbare
Realität handelt. Für die anderen Beispiele gibt es erdrückende Indizien, aber darum geht es hier
nicht. Entscheidend ist zu begreifen, dass manche Menschen zu Taten fähig sind, die sich andere
nicht in ihren schlimmsten Alpträumen vorstellen können, oder noch allgemeiner: dass es Wahrheiten
gibt, die für viele Menschen jenseits ihres Vorstellungsvermögens liegen, die sich nicht in ihre
neuronale, d.h. geistige und seelische Struktur integrieren lassen. (Dazu gehört z.B. auch die
Wahrheit über das Geld.) Da hilft auch keine Konfrontation mit der Wahrheit, kein Beweis, keine
Bildung. In Bezug auf Personen hängt dies auch damit zusammen, dass die Menschen an das Gute
glauben wollen, oder noch treffender formuliert: an ein Fünkchen Gutes glauben müssen, um leben zu
können. Ohne ein Fünkchen Vertrauen kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Und so, wie das
vom Vater missbrauchte Kind verzweifelt versucht, irgend etwas gutes oder sinnvolles oder logisches
in der Situation zu erkennen, so wollen die Untertanen das Gute in der Handlungsweise der
Mächtigen sehen, egal, welche Verbrechen sie im Namen des Volkes begehen. Es ist für sie
überlebenswichtig, einfach eine existentielle Frage. Sie können nicht begreifen, dass sie von den
Mächtigen für Ziele missbraucht werden, die abartig scheinen oder jenseits ihrer Wahrnehmung
liegen. Sie
können nicht.
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